40 weiße Rosen
Erinnerungen an Inge Aicher-Scholl
Anfang November 1986 hatte ich in Publik-Forum, der Zeitung kritischer Christen, über die zehn namentlich bekannten katholischen Kriegsdienstverweigerer in Hitlers Wehrmacht berichtet. Es ging mir um eine notwendige Erinnerung an diese weithin vergessenen Märtyrer. Zu ihnen gehören Michael Lerpscher, Ernst Volkmann, Franz Jägerstätter und Richard Reitsamer. Wenige Tage nachdem mein Beitrag veröffentlicht wurde, erhielt ich Post aus Rotis. Als ich den Absender „Inge Aicher-Scholl“ las, da rief ich spontan in meinem Wohnzimmer: „Das ist die Schwester von der Sophie!“ Bruder Hans hatte ich seinerzeit vergessen.
Ende November 1986 besuchte ich dann Inge Aicher-Scholl und ihren Ehemann Otl Aicher in Rotis. Die „Schwester von der Sophie“ war sehr liebenswürdig und freundlich zu mir, aber der international bekannte Designer Otl Aicher war zunächst eher reserviert. Er musterte mich spürbar kritisch und fragte mich nach meinen Steckenpferden. Ich erzählte, dass ich manchmal dicke Bücher aus der Fernleihe hole und dann nur in den Fußnoten schmökere. Die Miene von Otl Aicher hellte sich auf, er lächelte: „Ich verstehe Sie gut. Ja, bei manchen Büchern sind die neuen Erkenntnisse in den Fußnoten versteckt.“ Und er machte sich Notizen, als ich die Einzelschicksale der eingangs erwähnten Kriegsdienstverweigerer schilderte.
Wir unterhielten uns auch über den Kirchenvater Augustinus und seine „Bekenntnisse“. Ebenso erinnere ich mich an einige Bemerkungen Otl Aichers über den „unpolitischen“ Religionsphilosophen Romano Guardini (1885 – 1968). In unserem Gespräch ging es auch um Theodor Haecker (1879 – 1945). Seinerzeit war mir zwar sein Name geläufig, aber nicht der Titel seines Hauptwerkes „Tag- und Nachtbücher“. Es war Neuland für mich, als Inge Scholl vom Schicksal dieses Manuskriptes erzählte: Als nach der Verhaftung von Hans und Sophie Scholl die Gestapo auch Haeckers Wohnung durchsuchte, waren diese handschriftlichen Notate dank der Geistesgegenwart von Haeckers Tochter Irene gerettet worden. Später waren diese Blätter von Inge Scholl und ihren Eltern im Garten des Einödhofes im Schwarzwald, der ihnen als Zuflucht diente, vergraben worden.
Auf dem nächtlichen Weg nach Hause war mir klar: Du musst deine Hausaufgaben machen, die Lektüreliste ist sehr umfangreich. Manche Weggefährten nennen mich heute „belesen“. Ich muss gesteh’n, der Anfang wurde Ende November 1986 in Rotis gelegt.
An jenem Abend Ende November 1986 hatte ich Inge Aicher-Scholl auch gebeten, für ein Buchprojekt das Nachwort zu verfassen. Im April 1987 erschien es dann unter dem Titel „Das Lächeln des Esels. Das Leben und die Hinrichtung des Allgäuer Bauernsohnes Michael Lerpscher (1905 – 1940)“. Hier ein Auszug: „Michael Lerpscher schweigt, geht seinen Weg. Von diesem Blute sind die Heiligen, die, wie man weiß, zumeist nach ihrem Tode entdeckt werden. Zu Lebzeiten sind sie Außenseiter. Michael Lerpscher hat die Idee des Christentums, wie es ursprünglich gemeint war, über Jahre der Schmach hinweg weitergegeben.“ Inge Scholl war hoffnungsfroh, sie wusste um die Kraft einer Idee: „Eine Handvoll Menschen werden dieses Jahrhundert retten, flüstert jemand. Eine Handvoll, mitten in einer Masse, die feindselig ablehnt, mitten in der stärksten Verdunklung – in der Mitte dieses Jahrhunderts, in dem horrenden Wahn des Zweiten Weltkriegs.“
Otl Aicher starb am 1. September 1991 an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Er wurde bei der Gartenarbeit vor seinem Haus von einem Motorrad angefahren. Jahre später erschien in der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe vom 18. Juni 1994) unter der Überschrift Grasabschneiden war sein Schicksal ein satirischer Beitrag über dieses Lebensende. Umgehend richtete ich dieses Schreiben an den Chefredakteur: „Seit einigen Jahren bin ich mit der Familie Aicher-Scholl befreundet. Auch gestern besuchte ich Frau Inge Aicher-Scholl in Rotis. Unsere Gespräche kreisten auch um den vorbezeichneten satirischen Beitrag. Die kaltschnäuzige Lieblosigkeit angesichts des tragischen Todes von Otl Aicher, wie sie in der besagten Satire über das Grasabschneiden ihren Niederschlag findet, führte bei Inge Aicher-Scholl zu manch schwermütiger Stunde in schlaflosen Nächten. Als Freund der Familie möchte ich die angesehene Süddeutsche Zeitung fragen, warum ausgerechnet die Familie Aicher-Scholl zur Zielscheibe des mißglückten Spottes wurde?“ Ich stellte auch die Frage: „Darf Satire alles?“ Mein Schreiben endete mit dieser höflichen Bitte: „Ich bitte Sie aufrichtig, sehr geehrter
Herr Chefredakteur, einige persönliche Zeilen der Anteilnahme an Frau Inge Aicher-Scholl (Rotis 5, 88299 Leutkirch) zu richten.“ Inge Scholl erhielt nie eine Antwort.
Einen Monat darauf, am 20. Juli 1994, fuhr ich wieder nach Rotis, um Inge Scholl abzuholen. Unser Staatliches Gymnasium Kaufbeuren veranstaltete zum 50. Jahrestag von Stauffenbergs missglücktem Attentat auf Hitler eine Lesung mit Inge Aicher-Scholl. Sie trug Auszüge aus ihren Büchern „Die Weiße Rose“ sowie „Sippenhaft“ vor. Bei den anschließenden Fragen der Schüler an die namhafte Zeitzeugin ging es vor allem darum, warum ihre Geschwister Hans und Sophie in so jungen Jahren schon so reif und so mutig waren. Die Aula unserer Schule war mit Flugblättern der Weißen Rose geschmückt. Zudem waren uns von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin Plakate einer Wanderausstellung zugesandt worden. „Wenn wir heute von unserer Menschenwürde sprechen“, so die Leitlinie unserer damaligen Veranstaltung, „stammt die Legitimation hierzu nicht zuletzt von der Würde derer, die damals für ein besseres Deutschland gestorben sind.“ Am Nachmittag dieses 20. Juli 1994 wurde Inge Scholl von einem kunstgeschichtlich versierten Kollegen durch die spätgotische Kirche St. Blasius Kaufbeuren geführt. Sie war von diesem Sakralbau aus dem Mittelalter derart begeistert, dass sie spontan den Wunsch äußerte, dieses Baudenkmal bald auch ihren Kindern zu zeigen. Nur einige Tage darauf, am 11. August 1994, feierten wir hier in Kaufbeuren Inges 77. Geburtstag. Zunächst in dem Restaurant „Wärmflasch’“ und dann in unserem blühenden Sommergarten. Zum Abschluss besichtigen wir (Inge Aicher-Scholl, Florian Aicher, Manuel und Noel Aicher, Julian Aicher, meine Frau Stefanie und ich) die Blasius-Kirche in Kaufbeuren.
Zurück zum 20. Juli 1994: Ich erinnere mich noch genau, wie wir uns auf dem Weg von Friesenried nach Kaufbeuren über die „Flugblätter der Weissen Rose“ unterhielten. Auf der Höhe der Oberbeurer Steige bot mir Inge das Du an und fuhr fort: „Was der Hans damals in dem vierten Flugblatt geschrieben hat, das versteht ja heut’ niemand mehr.“ Für mich war dies der Anstoß, am Abend dieses denkwürdigen Tages mit großer Aufmerksamkeit das besagte Flugblatt zu lesen. Inge hatte wohl diesen Abschnitt im Sinn: „Jedes Wort, das aus Hitlers Munde kommt, ist Lüge. Wenn er Frieden sagt, meint er den Krieg, und wenn er in frevelhaftester Weise den Namen des Allmächtigen nennt, meint er die Macht des Bösen, den gefallenen Engel, den Satan. Sein Mund ist der stinkende Rachen der Hölle, und seine Macht ist im Grunde verworfen. Wohl muß man mit rationalen Mitteln den Kampf wider den nationalsozialistischen Terrorstaat führen; wer aber heute noch an der realen Existenz der dämonischen Mächte zweifelt, hat den metaphysischen Hintergrund dieses Krieges bei weitem nicht begriffen. Hinter dem Konkreten, hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren, hinter allen sachlichen, logischen Überlegungen steht das Irrationale, d.i. der Kampf wider den Dämon, wider den Boten des Antichrists.“ Auf alle Fälle waren aufgrund dieser schwer zugänglichen Zeilen meine Neugierde und mein Interesse geweckt.
Es gibt wohl erstaunliche Berührungspunkte. Im Dezember 2000 war ich Referent, als der Arbeitskreis „Historische Friedensforschung“ in Bremen tagte. Mein Thema war der Allgäuer Leutnant Michael Kitzelmann, der am 11. Juni 1942 hingerichtet worden war. Am Ende dieser Tagung wurde ich gefragt, ob ich bei einem Symposion, das für den 18. Februar 2003 an der Ludwig-Maximilians-Universität München geplant sei, einen Vortrag über die religiösen Bezüge in den „Flugblättern der Weissen Rose“ halten könne. Ich sagte gerne zu. Dabei kam mir wieder das Gespräch mit Inge Scholl vom 20. Juli 1994 in den Sinn. Für mich waren und sind jene schwer zugänglichen Zeilen aus dem vierten Flugblatt ein Schlüssel zum tieferen Verständnis der Weißen Rose.
Zum 22. Februar 1995 sandte ich ihr eine Jubiläumskarte nach Rotis. Denn auf den Tag genau 50 Jahre zuvor, also zwei Jahre nach der Hinrichtung ihrer Geschwister Hans und Sophie, war Inge Scholl in der Kirche von Ewattingen getauft worden. Hocherfreut erzählte sie mir tags darauf am Telefon: „Du und ich sind die einzigen Menschen, die diesen Tag vor 50 Jahren nicht vergessen haben.“
Auch in den langen Jahren des Allgäuer Kasernenkampfes war Inge Aicher-Scholl meine treue Weggefährtin. Ich erinnere mich noch gut an ein gemeinsames Interview für das Magazin MONITOR. Erst nach sieben Jahren eines hinhaltenden Abwehrkampfes der Hardthöhe fällte der damalige Bundesminister der Verteidigung Volker Rühe (CDU) im November 1995 die Entscheidung, die „Generaloberst-Dietl-Kaserne“ in Füssen in „Allgäu-Kaserne“ umzubenennen. Wenige Tage später fuhr ich mit meinem Freund General Winfried Vogel (damals Stellvertreter des Amtschefs am Streitkräfteamt Bonn) nach Rotis, um den gemeinsamen Erfolg zu feiern. Diese Umbenennung in Füssen fiel zusammen mit dem 40. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr. Zu diesem runden Geburtstag schickte mir Inge einen herrlichen Strauß mit 40 weißen Rosen. Die feinsinnige Botschaft der beigefügten Grußkarte lautete: „Lieber Jakob, mit der Umbenennung der Kaserne in Füssen hast Du der Bundeswehr das schönste Geschenk zu ihrem 40. Geburtstag überreicht. Herzlichen Glückwunsch! Deine Inge Aicher-Scholl“
Zurück in die Gegenwart: Als im März 2012 das Auditorium Maximum an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München nach Hans Scholl benannt wurde, durfte ich die Festrede halten. Nicht ohne innere Rührung würdigte ich auch die sanfte Gewalt von Inge Aicher-Scholl. Hier ein Auszug: „Fast 20 Jahre ist das nun her: Im Frühsommer 1994 schrieb Inge Scholl, die älteste der Scholl-Geschwister, an den damaligen Bundesminister Volker Rühe: ‚Am 18. Februar 1943 wurden meine Geschwister Hans und Sophie Scholl in München verhaftet. Sie hatten mit Flugblättern, mit denen sie das NS-Regime anprangerten und entlarvten, einen offenen Widerstand gewagt. Das letzte Flugblatt knüpfte an die verlorene Schlacht von Stalingrad an, wo dreihundertdreißigtausend deutsche Männer in Tod und Verderben gehetzt wurden. Ebenfalls am 18. Februar 1943 verkündete Propagandaminister Joseph Goebbels im Sportpalast Berlin den >totalen Krieg<.’
In jenem Brief fuhr Inge Scholl fort: ‚Knapp dreißig Kasernen der Bundeswehr tragen die Namen von Helden aus Hitlers verbrecherischen Angriffskriegen. Nur zehn Kasernen sind nach den hochherzigen Männern des 20. Juli 1944 benannt. Dieses skandalöse Missverhältnis entlarvt die Sonntagsreden der verantwortlichen Politiker. Der hallende Ruf meines Bruders Hans vor seiner Hinrichtung >Es lebe die Freiheit!< hat die Abgründe der Traditionspflege nicht erreicht.’ Der Minister ließ antworten. Hier ein Auszug aus diesem Schreiben: ‚Für die Bundeswehr ist es selbstverständlich, in ihrer Bildungs- und Erziehungsarbeit die Zeit der Wehrmacht nicht aus dem Bewusstsein der Soldaten zu tilgen (…), ohne dabei die Wehrmacht als Institution in ihrer Gesamtheit in die Traditionspflege einzuschließen.’ (…) ‚Ich kann Ihnen versichern’, so endete das Schreiben, ‚dass in der Bundeswehr sehr sorgsam mit Geschichte und Tradition umgegangen wird und jeder Einzelfall genau geprüft und beurteilt wird.’
‚Es stimmt’, so fuhr ich in meiner Festrede vom März 2012 fort, ‚der Einzelfall >Generaloberst-Dietl-Kaserne< in Füssen wurde sieben Jahre lang geprüft; fünf Einzelgutachten wurden in Auftrag gegeben. Es ist hier nicht der Ort und der Anlass, auf Dietls schuldhafte Verstrickungen einzugehen. Doch da wir uns hier in München befinden, nur ein Schlaglicht: Im November 1943, zum 20. Jahrestag des Marsches auf die Feldherrnhalle, beendete Generaloberst Dietl seine Durchhalterede mit diesem Bekenntnis: ‚Ich erkläre feierlich: Ich glaube an den Führer!’ Am 9. November 1995 schließlich – ungewollt am geschichtsträchtigen 9. November – verfügte Minister Rühe die Neubenennung der >Generaloberst-Dietl-Kaserne< in >Allgäu-Kaserne<.“
***
Als ich Anfang September 1998 in England weilte, da wusste ich um den ernsten Gesundheitszustand von Inge Aicher-Scholl. In einem kleinen Laden in der Nähe von Lincoln entdeckte ich eine schöne Kondolenzkarte mit einer weißen Rose. Zu Hause angekommen vernahm ich dann die traurige Botschaft, die mir ihr Sohn Florian Aicher mitgeteilt hatte. Es tat mir weh, dass ich beim Gottesdienst und bei der Beerdigung nicht dabei sein konnte. Größer als die Trauer freilich war die Dankbarkeit für eine sinnerfüllte und wegweisende Lebensgeschichte. Auf der Kondolenzkarte aus England zitierte ich – in dem betont augustinischen Duktus – ihren großen Meister und Weggefährten Theodor Haecker: „Die Seligkeit des Himmels ist, dass jeder Mensch tun kann, was er will, nämlich, weil er die vollkommene Liebe hat.“